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Karlheinz Stockhausen



Vier Kriterien der Elektronischen Musik

(Tonbandtranskription eines ohne schriftliches Konzept frei gehaltenen Vortrages am 14. September 1972 im Folkwang-Museum in Essen; erschienen im Sammelband >Selbstdarstellung. Künstler über sich<, hrsg. v. w. Herzogenrath, Düsseldorf 1973)


Guten Abend! Seien Sie zunächst bedankt fürs Kommen.

Vielleicht sind nur drei oder vier unter Ihnen, die praktisch mit der Herstellung Elektronischer Musik zu tun haben werden. Dennoch glaube ich, daß zwischen Herstellung und Wahrnehmung heute sehr viel weniger Abstand besteht, als das in früherer Musik der Fall war.
Das erste Kriterium nenne ich Die Komposition im musikalischen Zeitkontinuum, das zweite Kriterium Die Dekomposition des Klanges, das dritte Kriterium Die Komposition mehrschichtiger Räumlichkeit und das vierte Kriterium Die Gleichberechtigung von Ton und Geräusch.
Diese etwas fachlich klingenden Titel werden sich gleich als allgemeingültiger erweisen, wenn ich Ihnen Beispiele dafür gebe. Und ich bitte Sie, ohne weiteres zwischendurch zu fragen, falls etwas unklar bleibt. Wir haben in der Musik der Vergangenheit vorausgesetzt, daß - entsprechend der historischen Entwicklung der einzelnen Charakteristika des Tons - Tonhöhe, Dauer, Lautstärke, Klangfarbe und Richtung und Geschwindigkeit eines Tones im Raum - verschiedene Kategorien sind, die durch unsere Wahrnehmung bestimmt werden, und daß sich daran nichts ändern ließe. Historisch sind ja im Verlauf von nun fast tausend Jahren diese verschiedenen Charakteristika des Tons nacheinander entwickelt worden. Das vergißt man viel zu schnell. Die Tonhöhen sind am meisten entwickelt. Wir haben heute eine automatische Tonhöhenmessung: wenn Sie ein Klavier benutzen, dann sind die Tonhöhen schon vorher gemessen. Da brauchen Sie nur noch Tasten anzuschlagen. Dasselbe trifft auch weitgehend zu für geblasene Töne und gestrichene Töne. Selbst wenn da kleine Abweichungen sind, richtet man sich nach festgelegten Skalen von ca. 88 Tonhöhen, die der Komposition gedient haben.

Die Dauern sind schon sehr viel weniger entwickelt. Ihre Entwicklung hat auch viel später eingesetzt, als man anfing, die Zeitdauer der Töne genau zu messen.
Das wurde auch erst notwendig, als man begann, Töne genau übereinander zu setzen und nicht nur nebeneinander. In einer Melodie kann sich der rhythmische Fluß ruhig verschieben, und man braucht nicht so genau nach der Uhr zu messen. Aber sobald etwas genau zusammenfallen soll, muß man Werte vorschreiben, die gemessen und die auch nachprüfbar sind. Also wurde die genauere Notation - und damit auch die Komposition - der Zeitdauern etwa zwei- bis dreihundert Jahre später begonnen.

Wieder zwei- bis dreihundert Jahre später begann man zum ersten Mal, Lautstärkewerte strukturell zu komponieren, also nicht nur terrassenförmig, sondern mit Crescendi, mit Decrescendi. Sie wissen vielleicht nicht, daß es mehrfach Riesenkrach in Mannheim gegeben hat, als die ersten Crescendi in der Musik auftauchten und die Leute wirklich im wörtlichen Sinn von den Stühlen hochgegangen sind und protestierten.
Solche Erweiterungen der musikalischen Charakteristika sind für die Wahrnehmung manchmal so eingreifend, als ob sie etwas mit Veränderungen der Verhältnisse, wie man heute sagen würde, zu tun hätten. In Wirklichkeit sind sie nichts anderes als einfache Erweiterungen der Gestaltungsbereiche.

Dasselbe trifft für die Klangfarben zu, die noch bis Ende des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts unemanzipiert komponiert wurden, das heißt, sie dienten einfach zur Klärung von Verhältnissen, die sowieso schon geschaffen waren in Harmonik und Melodik. Selbst die Rhythmik diente im wesentlichen der Klärung der harmonischen Verhältnisse. Das wissen wir aus der ganzen Synkopentheorie. Schönbergs Konzeption, daß man mit Klangfarben genauso Musik machen könnte wie vorher mit Veränderungen der Tonhöhen, ist ja bis heute noch nicht ins Bewußtsein der meisten Musiker gedrungen; daß man zum Beispiel ein Stück machen könnte, in dem die Tonhöhe völlig konstant ist, für eine halbe Stunde, und dieselbe Information musikalisch komponiert und wahrgenommen sein könnte - nur durch Veränderungen der Klangfarben -, wie früher in einer melodischen Komposition. Wenn jetzt eine Systematik für die Ordnung der Klangfarben einsetzte ähnlich wie für die Intervalle, so daß wir auch Intervalle der Farbigkeit komponieren und wahrnehmen könnten, mit denen wir genauso sinnvoll Musik machten, indem wir die Tonhöhen einfach einmal neutralisierten, So hätten wir eine Gleichberechtigung von Tonhöhen- und Klangfarbenkomposition erreicht. Das nur in Klammern.

Seit der Mitte des Jahrhunderts findet dann allmählich eine Emanzipation der räumlichen Bewegung statt, indem also auch der Punkt, an dem in einem gegebenen Raum, im Freien oder im Saal, ein Ton erklingt, und die Richtung, aus der im ihn höre, genauso maßgebend sein könnten, wie (in der übertragenen Vertikale der Tonhöhen) Töne verschieden hoch klingen können. Das ist ganz neu und wird in größerem historischem Abstand einmal als eine Revolution bezeichnet werden, vergleichbar der revolutionierenden Emanzipation der Dynamik oder der Klangfarben. Richtung und Geschwindigkeit eines Klanges in einem gegebenen Raum könnten also genauso relevant werden, wie die Frequenz eines Tones.

Also das erste Kriterium: Was bedeutet es, daß die Wahrnehmungskategorien Klangfarben, Melodie und Harmonie, Dauern (also Rhythmik und Metrik), formale Einteilungen nicht einfach unvermittelte Kategorien sind, sondern daß man unter Umständen von einer Kategorie in die andere kontinuierlich übergehen könnte? Erstes Thema ist, hatte ich gesagt, Komposition im Zeitkontinuum. Im gebe Ihnen ein paar elementare Beispiele.
Wenn ich hier auf das Pult klopfe und das aufnehme mit einem Magnetophon, eine Tonbandschleife daraus mache, und das jetzt tausendfach beschleunige, dann kriege ich einen Klang, der eine bestimmte Tonhöhe hat, und die Tonhöhe wäre definiert durch den Abstand zwischen den lautesten Akzenten der Perioden. Wenn das genau eine Sekunde wäre, also ti, ta, ta. , . habe ich geklopft, und ich daraus eine Tausendstelsekunde machte, dann würde ich einen Ton hören, der tausend Schwingungen pro Sekunde hat, also eine konstante Tonhöhe aufgrund der Wiederholungen dieser Periode.
Außerdem aber hat die ja auch irgendeine >Klangfarbe<. Im Moment klingt es so »wie Holz«, sagen wir, und das ist alles, was wir zur Bezeichnung dieses Klanges zunächst sagen können. Das ist natürlich ziemlich primitiv: „wie Holz“, oder „als wenn ich mit dem Finger auf das Pult klopfe" . So müssen wir die Klangfarbe beschreiben. Aber nach der Beschleunigung wird sich bei diesem Ton, der wie ein dreigestrichenes C klingt (nämlich tausend Perioden pro Sekunde), ja auch irgendeine Farbe ergeben. Die Farbe wird dann aus diesen Komponenten entstehen, die dieses Holz hier zunächst einmal gehabt hat, und aus den Unterteilungen der Periode. Ich habe ja nicht nur einfach gemacht:
tam - tam - tam, sondern ti, tata, ti, tata. Ich könnte auch einen anderen Rhythmus klopfen. Gäbe der etwas anderes? Ja. Da müssen wir also untersuchen, was das andere eigentlich ist. Was im sagen will: wir haben etwas, was als Rhythmus gehört wurde (also sich offenbar innerhalb von Dauernproportionen abspielte, die wir einzeln wahrnehmen und vergleichen können), umgewandelt in eine andere Wahrnehmung musikalischer Zeit, die wir als Tonhöhe oder als Klangfarbe bezeichnen.
Wenn ich jetzt zwischen diesen Akzenten einen Abstand machen würde, der, sagen wir, von Schlag zu Schlag zwei bis drei Minuten dauerte, dann würden wir das nicht mehr als einen Rhythmus hören, sondern einfach als eine grobe Einteilung von Zeit. Wenn dazwischen nichts passiert, dann wäre das die Musik, dann wären diese drei Schläge in sechs Minuten die Musik. Und wir hätten also drei Abschnitte gehabt in der Musik, nämlich: es geschah was, dann war wieder was, und dann war wieder was, und die Ereignisse waren sich ziemlich ähnlich. Zwei Abschnitte sogar nur. Was danach kam, das hat überhaupt nicht aufgehört, oder ich bin weggegangen, oder jemand hat angefangen zu applaudieren oder zu buhen, und dann war es zu Ende. Und dann fing was anderes an.
Also solch eine >Dauer< ist eine formale Dauer, die wir in engerem Sinne der Musik als Formsektion bezeichnen.
So hätten wir also unter Umständen ein Kontinuum zur Verfügung, und das ist erst mit den neuen Apparaturen zu erreichen, in dem wir kontinuierlich von einem Bereich in den anderen übergehen können: ein Kontinuum, dessen drei Bereiche FORM, was wir formale Einteilung nennen, dann RHYTHMIK und METRIK, dann HARMONIK und MELODIK als ungefähr gleich große Bereiche der Wahrnehmung sind. Das ist sehr interessant. Tonhöhen hören wir von ungefähr 20 Hertz bis 4000 Hertz, das sind, wie Sie wissen, auf dem Klavier ca. 7 1/2 Oktaven. Und es ist interessant, daß die Dauern, die wir wahrnehmen, als rhythmische Werte von ca. 1/8 Sekunde bis 8 Sekunden lang sind.
Man sagt, daß etwas, was länger als 8 Sekunden dauert, als rhythmischer Wert nicht mehr genau unterschieden werden kann; da setzt unsere Wahrnehmung wieder aus, sie wird unscharf. Man verwechselt auf einmal Werte, man kann sich nicht mehr erinnern, ob die 11 oder 13 Sekunden gedauert haben. Unser Erinnerungsvermögen läßt also bei Ereignissen ab 8 Sekunden Dauer nach. Dort fängt wieder ein neuer Bereich der Wahrnehmung an, in dem man die formalen Einteilungen unterscheidet. Und der ist auch wieder ca. 7 Oktaven, das heißt siebenmal das Doppelte ( das ist ja 1 >Oktave< ) breit. Er reicht bis zu der Dauer, die man so üblicherweise in der traditionellen Musik für einen Satz eines Werkes bzw. für ein ganzes Werk gebraucht hat, sagen wir bis zu einer Viertelstunde. Wenn Sie das einmal mitrechnen: 8- 16- 32- 64- 128- 256 512 - 1024 Sekunden (siebenmal das Doppelte) ergibt 17 Minuten. Das ist ungefähr die Dauer, nach der bisher in der traditionellen Musik ein Werk aufhört. Warum dauert es nicht sieben Stunden? Weil wir in unserer Tradition ganz bestimmte Wahrnehmungsbereiche ausgebildet haben, innerhalb derer sich Musik abspielt.

Wenn ich jetzt das erste Beispiel spiele, dann soll es demonstrieren, was in der Elektronischen Musik erst bewußt und praktisch möglich geworden ist: daß man zum Beispiel eine Melodie in einen Rhythmus, Töne in Rhythmus verwandelt, indem man sie kontinuierlich verlangsamt; oder daß man irgendeine Form, eine Großeinteilung der Zeit, in einen Ton verwandelt, indem man sie beschleunigt.
Man könnte zum Beispiel eine Beethoven-Sinfonie so zusammenstauchen, daß sie nur noch zwei Sekunden dauert. Dann wäre also das Innenleben, das rhythmische Innenleben dieser zwei Sekunden maßgebend für die Klangfarbe dieses Klanges, für den Klang, wie er mir als Einheit erscheint. Er hätte eine Mikrostruktur, die von Beethoven komponiert wäre. Das ergäbe einen neuen Klang. Es gibt zur Zeit technische Schwierigkeiten, eine Transposition in der Zeit zu machen, ohne automatisch auch die Tonhöhen zu transponieren; aber im Prinzip geht das.
Oder man könnte - jetzt umgekehrt - irgendeinen Klang nehmen und so auseinanderdehnen, daß er die große Zeiteinteilung einer Sinfonie erreichte.
Dann hätten wir die mikromusikalischen Eigenschaften, Zeiteigenschaften eines Klanges in die Makrozeit der Form übertragen.
So etwas geschieht dauernd in avancierten Werken Elektronischer Musik.
Daß zum Beispiel jemand eine rhythmische Struktur macht, dann diese rhythmische Struktur staucht, so daß ein einzelner Klang daraus wird, und man mit dem Klang weiter arbeitet. Oder umgekehrt, daß jemand eine rhythmische Struktur macht und die so dehnt, daß man sie nicht mehr als Rhythmus wahrnimmt, sondern daß man die Einzelschwingungen des Klanges dann zu hören beginnt. Die rhythmische Einteilung, die vorher als Rhythmus gehört wurde, wird dann, wenn man sie - sagen wir - 50fach verlangsamt, zu einer irrsinnig langsamen formalen Einteilung mit Crescendi und Decrescendi, und was zwischendurch passiert ist dann insofern wiederum interessant, als man in den Ton hineinhören und die Schwebungen der Töne wahrnehmen kann. Man 'mikroskopiert' musikalisch.

Die folgenden vier Beispiele kommen aus KONTAKTE, ein Werk, das ich 1959 komponiert habe. In diesen KONTAKTEN sind alle Klänge, auch die, die naturalistisch klingen - wie Holzblöcke, wie Metallbecken oder wie Almglocken, wie Maracas oder wie Konsonanten sch! -, also alle diese Klänge sind elektronisch, das heißt zunächst einmal synthetisch gemacht. Ich habe fast alle Klänge nur aus Impulsen gebildet - die klingen so: dock, dock, dock, wenn Sie sie im Lautsprecher hören, fast genauso, oder etwas breiter im Spektrum.
Aus solchen Impulsen habe ich Rhythmen zusammengeklebt, aus den Rhythmen Schleifen, die Rhythmen dann - regelrecht wie in einer Alchemistenküche - auf diesen Schleifen viele Stunden laufen lassen und das ganze Resultat aufgenommen; bin in einen Nebenraum gegangen, habe eine neue Schleife präpariert; dasselbe in einem dritten Raum. Da liefen also überall Schleifen, und das konnte man durch die Glasfenster, die zwischen den Studioräumen waren, beobachten. Anschließend ließ ich dann die Bänder mit schnellem Vorlauf des Magnetophons so beschleunigen, daß sie schon mal 4, 5 Oktaven hoch transponiert wurden, das Ergebnis dann nochmals 4 Oktaven höher - dann war ich schon 8 Oktaven hoch -, bis ich schließlich in einen anderen Bereich kam, in dem sich die Rhythmen als Tonhöhen und Klangfarben hören ließen. Ein furchtbar primitiver Prozeß! Um einen Klang herzustellen, der 8 Sekunden dauerte, brauchte ich einen ganzen Tag - um diese Klangfarbe also zusammenzusetzen, zu 'komponieren': durch die Mikrostruktur der Akzente zu definieren und dann eine ganze Familie von Klängen daraus zu generieren.

Das erste Beispiel zeigt folgendes: Aus einer dichten Schar von mehr oder weniger undefinierbaren Tönen schießt ein Klang heraus, der 169 Hertz hat.
Wir hören also ungefähr das kleine >Es<. Er schießt heraus und hat solch eine Klangfärbung [imitiert mit Stimme], fällt herunter in mehreren Kurven und zerbricht förmlich vor unseren Ohren, weil er durch die Wahrnehmungsgrenze schießt zwischen 30 und 16 Hertz; von 169 Hertz fällt er ungefähr 7 Oktaven 'runter. Das sind ungefähr vier Oktaven tiefer als das Klavier! Mit anderen Worten: die ursprünglichen Perioden hört man nicht mehr als Tonhöhen. Aber irgendetwas hört man ja doch noch: die Impulse, in die sich der konstante Ton zerlegt hat, haben auch noch eine Tonhöhe. Ich habe das ziemlich raffiniert gemacht, daß die Tonhöhe, auf der man landet, wieder dieselbe Tonhöhe ist, wie diejenige, mit der es begonnen hat, obwohl man 7 1/2 Oktaven gefallen ist.
Das muß man erläutern. Der erste Ton hatte eine Klangfarbe, bestimmte Teiltöne oder Obertonkomponenten, und diese Klangfarbenkomponenten sind, nachdem der Ton 7 1/2 Oktaven tiefer gefallen ist und sich in Einzelimpulse aufgelöst hat, jetzt als Tonhöhenkomponenten zu hören. Diese Tonhöhe stammt von den vorherigen als Klangfarbe gehörten Teilkomponenten der ersten Tonhöhe. So kann man 7 1/2 Oktaven fallen und genau dort ankommen, von wo man ausgegangen ist. Und das hat oft sichtbar und auch hörbar bei Leuten merkwürdige Gefühle im Magen hervorgerufen. Es liegt einfach daran, daß man eben dort eine kritische Zone durchfährt, wo man das akustische Gleichgewicht verliert. Das ist so ähnlich, wie wenn man für einen kurzen Moment in einen gravitationslosen oder orientierungslosen Raum kommt. Man verliert das Gleichgewicht, und der Körper und die Psyche reagieren sofort, um die Balance wiederzufinden, und zeigen entsprechende Symptome. So etwas geschieht immer dann, wenn man durch solche kritischen Zonen fährt, die Niemandsland sind. Die sind weder Tonhöhen noch Zeitdauern. Man kann sie noch nicht als Rhythmus hören, man kann sie aber auch nicht mehr als Tonhöhe hören. Das entspricht den tiefen Knacken bei Orgeln zum Beispiel, wenn die Tonhöhe so tief ist, daß das ganze Gehäuse zu scheppern anfängt und schließlich auch die Lampen im Raum mitklirren. Was also zwischen ca. 12 Impulsen pro Sekunde und 30 Impulsen pro Sekunde ist, läßt uns die Orientierung verlieren. Das liegt an uns, nicht an dem Klang. Hören wir jetzt das Beispiel.


Klangbeispiel 1

Man kann so etwas künstlerisch mehr oder weniger artikulieren; also mehrmals hinunter- und wieder hinaufgehen, die Einzeltöne länger machen und dann zum Beispiel wieder auf einen kontinuierlichen Ton kommen, der vorher auch schon da war, und dann mit diesem Ton weiter arbeiten. Man kann also innerhalb eines musikalischen Prozesses solch einen phänomenalen Vorgang sich ereignen lassen, der wie eine Öffnungsstelle wirkt, wo man auf einmal begreift, was eine Zeittransformation ist. Das physikalische Beispiel kann mehr oder weniger artikuliert werden, und das macht den wichtigen Unterschied zwischen Beispielen in der Physik und in der Musik aus.
Man kann bestimmte Kriterien auf ziemlich simple und banale Weise musikalisch klarmachen, oder aber sie irgendwie so komponieren, wie es noch keiner gemacht hat, also sehr eigenartig und unerwartet. Dann wird es Musik, dann wird es etwas Künstlerisches. Im übrigen aber ist es nichts anderes als eine Öffnung und eine Erweiterung des Bewußtseins. Auf einmal ist man nicht mehr derselbe, wenn man begriffen hat, daß Töne ja nur innerhalb eines bestimmten Prozesses so sind, wie sie scheinen; daß ich aus jedem Ereignis irgend etwas anderes machen kann, also aus einer Tonhöhe einen Rhythmus, aus einem Rhythmus eine formale Einteilung, aus einer formalen Einteilung eine Klangfarbe; daß man also kontinuierlich durch die musikalischen Wahrnehmungskategorien hindurchkomponieren kann.
Und das ist eigentlich das Wesentliche, was in der neuen Musik stattgefunden hat im Vergleich zur alten Musik. Alte Musik - eine Perspektive. Man hatte eine Orientierung: so, jetzt höre ich rhythmisch-metrisch, und das Harmonisch-Melodische gehört dazu, aber in eine andere Kategorie, das Dynamische wieder in eine andere Kategorie. Man hatte immer das Problem, diese Kategorien zusammenzubringen, statt von einer einheitlichen Konzeption auszugehen und die Vielfältigkeit aus der einheitlichen Konzeption heraus zu entfalten und zu entwickeln. Das Podest ist umgestürzt. Der ganze Kompositionsprozeß ist umgekehrt worden und damit auch die Wahrnehmung.
Die eine Perspektive ist durch Relativität zu einer Vieldimensionalität geworden. Was Rhythmus ist, ist unter Umständen gar kein Rhythmus, oder ist so gestaucht, daß er plötzlich eine Melodie, ein melodisches Phänomen wird, oder ein Klangfarbenphänomen. Und dieses kontinuierliche Übergehen von einer Perspektive in eine andere während ein- und desselben Stückes: das ist eigentlich das Thema des Komponierens geworden. Nicht mehr irgend etwas anderes zu komponieren oder darzustellen oder zu exemplifizieren oder zu konstruieren, sondern die Transformationsmöglichkeiten der Klangmaterie sind das Thema selbst.
Ständig komponiere ich multidimensionale Aspekte des Klanglichen, um denjenigen, der das erlebt, auch multidimensional zu machen oder werden zu lassen, ihm jedenfalls die Chance zu geben, daß er nicht mehr nur eine Perspektive hat, sondern sich mit den Veränderungen mitverändert. Daß er sich sozusagen auf den Klang draufsetzt und mit dem Klang bewegt, und wenn der Klang eine Dimension durchschießt und in eine andere Dimension hineinspringt, muß man selber diesen Wahrnehmungssprung mitmachen.

Die Kategorien diagonal durchkreuzen: das ist, glaube ich, das Allerwesentlichste. Deshalb haben wir auch manchmal Probleme mit Phänomenen, die das Bewußtsein des Menschen sehr schnell erweitern und erneuern, weil es einfach zu schnell geht. Es gibt ein Trägheitsgesetz des Psychischen genau wie der physikalischen Materie. Und dagegen ist nicht immer anzukommen, oder nur sehr schwer. Es liegt ganz an der Psyche der einzelnen Menschen, wie weit sie fähig sind, solche Bewußtseinserweiterungen, die durch die neuen Erlebnisse kommen, möglichst schnell mitzuvollziehen.
Wiederholen wir also das erste Beispiel (ich habe mich etwas lange aufgehalten bei dem ersten, die anderen gehen dann etwas schneller).
Ich schlage vor - was ich immer wieder tue, auch auf die Gefahr hin, daß man sagt, ich sei Romantiker -: schließen Sie einfach die Augen. Dann hört einfach besser, wenn man nicht mehr visuell abgelenkt wird - wenn Sie mich nicht mehr anstarren oder die Lautsprecher, also völlig unwesentliche Dinge im Moment der Wahrnehmung des Tones, sondern lediglich dem Schallvorgang folgen und so gut wie möglich diese Transformation in der musikalischen Zeit mitvollziehen, um zu sehen, was dann mit Ihnen passiert. Ich werde außerdem noch das Licht im Saal ausmachen und von der Mitte des Saales aus die Lautstärke regeln. Das Beispiel lasse ich jetzt ungefähr noch vier Minuten länger laufen, und Sie können verfolgen, wie ich für mehrere Minuten nur mit dem einen Ton Musik mache, den wir nach dem 7 1/2-oktavigen Absturz erreicht haben.

Klangbeispiel 2

(Beispiel 1 wiederholt, diesmal aber bis 21' 50" wiedergegeben)

(Nachdem das Beispiel vorbei und das Licht wieder angemacht ist, singt Stockhausen den letzten ausgeblendeten Ton, während er aufs Podium kommt und sagt dann: „Merken Sie sich diesen Ton, seine Farbe - mit dem wird im folgenden Prozeß etwas ganz Bestimmtes geschehen!“)

Nun das zweite Kriterium, die Dekomposition des Klanges. Was heißt das? In der westlichen Musik basiert die Erzeugung charakteristischer musikalischer Vorgänge, die für ein Werk typisch sein sollten – für einen Komponisten sogar – , ganz wesentlich auf der Instrumentation, wie man es genannt hat. Also auf der instrumentalen Mischtechnik; so, wie Maler verschieden Tuben haben und aus diesen Tuben ihre Farben mischt, spezifische Farben, so haben Komponisten mit Orchesterfarben und Chorklängen (und zwar beschränkt sogar auf die Vokalklänge, das heißt Klänge, die ein harmonisches Spektrum haben) ihre >Klangfarben< gemischt. Die Geräusche, darauf kommen wir im letzten Abschnitt, hatten in der westlichen Musik nur sekundäre Funktionen, sie haben nur hie und da Akzente gesetzt nach bestimmten Konventionen. In der ganz hierarchisch organisierten Tonhöhenordnung hatte das seine besonderen Gründe, darauf komme ich gleich noch. Komposition bestand immer aus dem Zusammensetzen von Teilchen, wie das Wort componere = zusammensetzen auch sagt. Man bildete kleine Gebilde, Figuren aus einzelnen Komponenten. Man ging also immer davon aus, vom Kleinsten zum Größten zu komponieren, wobei als Kleinstes ein gegebener Ton, durch ein Instrument oder durch die Stimme erzeugt, betrachtet wurde, und nicht etwa, wie in unserem Beispiel beweist, ein Impuls oder sogar nur eine einzelne Schwingung. Dekomposition ist ein typisches Phänomen, das in seiner eigentlichen Qualität erst durch elektronische Hilfsmittel möglich geworden ist: daß nämlich irgendein Klang, den wir hören, sich im Verlaufe einer musikalischen Kommposition in einem bestimmten Moment entfaltet, also im wörtlichen Sinne entdecken, aufdecken läßt. Er entschlüsselt, was denn eigentlich seine Farbe oder sein So-sein bestimmt hat. Deshalb sagte ich eben: »Merken Sie sich diesen Ton, und seine Farbe vor allen Dingen« (die kann man überhaupt nicht nachmachen ...).
Da ist also ein Ton, ob ich nun zu ihm sage 'Klavier' oder 'Roller' oder' Auto': es ist ein Ton, und das da ist ein anderer; und das da ist noch ein anderer: 'a' oder 'i' oder 'Flugzeug', oder was weiß ich noch. Wir haben ja bisher immer nur die Töne benannt nach ihrer Herkunft. Das ist so ähnlich, wie wenn ich zu Ihnen sagte, Sie sind 'der Herr von Bergisch Gladbach', also sagt man 'Klavierton'; man war bis heute nicht fähig, musikalische Töne mit Namen zu benennen, wie rot oder grün bei den Farben. Wenn man sagt Oboe, dann meint man das Instrument, das man gebaut hat, und mit dem man Töne macht. Aber einen Oboenton als solchen kann noch niemand unter Musikern beschreiben. Wenn Musiker Töne hören, von denen sie nicht wissen, wie sie gemacht werden, sind sie völlig verloren. Dann sagen sie: »Ja, das gibt es gar nicht« oder, »das sind 'abstrakte Töne'«, oder - »das ist keine Musik«. Warum? Es gehört nicht in die Kategorien, die wir beim Namen nennen können. Das ist sehr wichtig, denn da verliert man auf einmal die Wahrnehmung, die Orientierung. Und es schafft Unsicherheit. Und Unsicherheit ist nicht erwünscht. Also: wo man Töne nicht benennen kann, ist musikalisches Neuland. Das ist die berühmte neue Musik.

Und erst recht das, was man mit diesen Tönen gemacht hat, ist 'unerhört'. Das nennt man dann Neue, großgeschrieben, Neue Musik.
Man denkt aber nicht darüber nach, daß in einem Konservatorium 10 Jahre lang Leute zusammensitzen und dafür sorgen müßten, daß wir in den nächsten 10 Jahren eine saubere Sprache für Töne bekämen, und zwar für alle Töne, nicht nur für Oboe und für Klavier und Harfe und Stimme, für Kanarienvogel oder für eine Amsel (das wissen die meisten Musiker schon gar nicht, was eine Amsel für Töne macht). Damit meine ich: wir haben ein ganz kleines, beschränktes Reservoir an Tönen, die wir benennen können, und das ist miserabel. Schon in den zwanziger Jahren hat es in der Farbentheorie zum Beispiel einen Katalog gegeben, den >Ostwaldschen Farbtonkreis<, in dem über 200 deutlich unterscheidbare Farben differenziert wurden (wie in einer Tonhöhen-Skala eines Klaviers).
Solch eine Skala für die Klangfarben aufzustellen wäre zum Beispiel eine zukunftweisende Aufgabe für Musikwissenschaftler, statt sich ewig mit Partituren aufzuhalten, die im 15. Jahrhundert geschrieben worden sind. Dasselbe gilt für Skalen der Lautstärken.
Es geht mir hier darum, sich einen Klang in einer gegebenen Komposition als einheitliches Phänomen vorzustellen - ich höre einen Klang -, und diesen einheitlichen Klang jetzt auseinanderzutun, zu dekomponieren. Das ist ein Phänomen der Wahrnehmungserweiterung. Da wird mir etwas bewußt, etwas Phänomenales, daß nämlich der Ton nicht einfach nur ein Ton ist, sondern daß er ganz bestimmte Komponenten hat, und was das für Komponenten sind, wie die einzelnen Komponenten klingen und wie die auseinandergefaltet werden. Solch ein Prozeß kann wieder entweder ein physikalisches Beispiel sein und relativ simpel gemacht werden, oder es kann ein hochinteressanter musikalischer Prozeß sein. Und ich werde Ihnen jetzt einfach die Fortsetzung des Beispiels, das Sie eben gehört haben, vorspielen. Da war der einsame Ton wieder erreicht am Schluß, und nachdem ein Akzent wie mit einem Seziermesser in diesen Ton schneidet, werden Sie hören (ich mache Ihnen das ganz klar), wie aus dem Ton eine erste Komponente im Glissando heruntergeht, und zwar in mehreren Glissandokurven, und wie sie wirklich vor unseren Ohren zerbricht, wie das Beispiel, das wir soeben gehört haben. Das geht dann so [macht mit Stimme brrrr mit Glissandi].
Die Tonhöhe wird so tief, daß man sie nicht mehr hört - und dann wieder diese Impulse, die weiter gehen. Dann kommt eine zweite Komponente, die steigt aufwärts heraus aus diesem Ton. Aber der Originalton geht weiter; seine Farbe hat sich schon etwas verändert. Man merkt auf einmal: Aha! Da war ja was drin. Das ist wie bei einer Zaubertüte, auf einmal - da ist dies, und das habe ich auch in mir, und das habe ich auch noch in mir ... Es tun sich Komponenten einzeln auf und schießen heraus. Eine zweite geht herauf, eine dritte Komponente kreuzt mehrfach den Originalton (der Originalton bleibt stur auf seiner Tonhöhe stehen), eine vierte, eine fünfte Komponente verläßt die Originalfrequenz, und schließlich ist die letzte Komponente übriggeblieben, zerfällt auch in mehreren Kurven, wird als Rhythmus hörbar, die Tonhöhe geht verloren. All die kleinen Partikelchen, die aus dem Zerfall der 6 Komponenten resultieren und die vorher in dem einen Ton vereinigt waren, fliegen im musikalischen Raum herum, sind auch gar nicht mehr als einzelne wahrnehmbar. Sie bilden ganz zerfetzte, perforierte Texturen, und schließlich werden die kleinen Stückchen immer länger, schwerer, geräuschhafter und landen in einem ganz breiten, fast meeresrauschenähnlichen Geräusch mit einem scharfen Akzent, und dieses krachende Geräusch ist dann der Kopf für die nächste Struktur. Und diesen Vorgang wollen wir jetzt durchhören.

Klangbeispiel 3

Das war also mit Dekomposition des Klanges gemeint: daß irgendein bestimmter Klang in einem musikalischen Prozeß sich öfters auftut, entfaltet, "dekomponiert'" (auseinanderkomponiert), und wir im Nachhinein feststellen, was er eigentlich ist. Nun, das ist wahrnehmungsmäßig ein sehr interessantes Phänomen. Man muß sich teilen. Man muß also einerseits bei dem Ton bleiben, der konstant weitergeht, andererseits aber mit den Komponenten gehen und auch noch mal schnell kontrollieren, was aus den anderen Komponenten geworden ist, die mittlerweile in kleinen Teilchen im Klangraum herumfliegen. Man wird also selber vielfältig. Das ist immer das Entscheidende, glaube ich, bei solchen musikalischen Wahrnehmungsprozessen. Wenn sich jemand einfach von draußen so etwas anhört und nicht wirklich hört, also das Bewußtsein auf den Klang so konzentriert, daß er selber alle Vorgänge des Klanges innerlich mitmacht, dann passiert natürlich überhaupt nichts. Wenn er sie aber mitmacht, dann muß er sich selber teilen, dann wird er polyphon, dann wird er selber mehrschichtig, dann zerbröckelt er selber in einer Schicht, der er gefolgt ist - aber er muß doch auch kontinuierlich bleiben. Diese Mehrdimensionalität der Wahrnehmung meine ich. Es ist ganz modern, mehrere Vorgänge gleichzeitig wahrzunehmen und sie auch genau wahrzunehmen.
Ich spiele jetzt das gleiche Beispiel noch einmal, und ich bitte Sie wieder, das Experiment zu machen, bewußt zu verfolgen, was in der inneren Vorstellung beim Anhören dieses Prozesses passiert. Es ist ein Prozeß des Werdens: aus einem Ton werden 6 Komponenten; und aus 6 Komponenten werden Scharen von Tönen; und aus diesen Scharen von Tönen werden geräuschhaftere stärkere Akzente, und aus diesen stärkeren Akzenten wird allmählich dieser eine schwere, blockähnliche Klang, aus dem dann Weiteres abgeleitet wird.

Klangbeispiel 4

(Beispiel 2 wiederholt, wobei wiederum alle Lichter im Saal ausgemacht werden.)

Ich versuche, Ihnen heute Abend klarzumachen, daß die neuen Mittel, die man im allgemeinen die Mittel der Elektronischen Musik nennt, und die neuen Kompositionsmethoden selbstverständlich nur dann neue Wahrnehmungen möglich machen, wenn sie originell, ich meine im ursprünglichen Sinne des Wortes originell gebraucht werden; also nicht einfach nur dazu, um ein paar hundert neue Klänge zu machen, die dann nach ein paar Jahren genau so abgebraucht sind wie früher neue Instrumentalklänge (sagen wir wie das Saxophon vor 50 Jahren).
Das wäre im Grunde nicht interessant, weil es eine rein modische Angelegenheit ist, einfach ein paar neue Klänge dem bisherigen Reservoir hinzuzufügen.
Wesentlich ist erst, die neuen Mittel so zu verwenden, daß effektive Bewußtseinserweiterungen und -veränderungen stattfinden, indem man zum Beispiel kontinuierlich durch musikalische Zeitbereiche fährt, also die Perspektive relativiert, die Perspektive der Wahrnehmung. Daß man Schallphänomene nicht als fertige Objekte vorstellt und denen dann Namen gibt, sondern das Werden und Vergehen von Klängen, von dem, was wir als Klangfarben bezeichnen, darstellt und dadurch den einzelnen Klang relativiert - also mit einer musikalischen Relativitätstheorie komponiert.
Die einzelne Farbe, merkt man, das ist ja nur ein momentaner Zustand: daß hier so und so viele Komponenten zusammenkommen und für eine bestimmte Zeit wie ein Klang wirken; auf einmal öffnet sich jedoch der Klang wieder und verwandelt sich in etwas anderes. So kommt es, daß man immer mehr Prozesse komponiert, statt fertige Objekte. Es ist ein ganz wesentliches Phänomen, die neuen Hilfsmittel so zu gebrauchen, daß sie effektiv unser Bewußtsein - auch von unserer Wahrnehmung, von dem, was wir eigentlich sind, was wir durch Töne werden können - erweitern und völlig erneuern. Nur dann, finde ich, hat ein neues Mittel seine Legitimität erreicht, wenn jemand es schafft, dieses Mittel so zu verwenden, daß die Wahrnehmung selber sich erneuert und das, was durch die Wahrnehmung geschieht, enorme Konsequenzen hat. Es sind einfach nicht mehr dieselben Menschen, die so etwas erlebt haben und die es bewußt erleben, diese Schallvorgänge mitzuvollziehen. Ich habe bereits früher geschrieben, daß man selbstverständlich die elektronischen Mittel ganz oberflächlich benutzen und sie sehr bald banalisieren wird - für irgendwas, um einfach Dekorationsmusik zu machen, Ausstaffierungsmusik, mit der man heute Zeit füllt, die in irgendeinem Auditorium oder in einem Kaufhaus oder einem Flugzeug oder in einem Omnibus halt irgendwie gefüllt werden soll, damit die Leute etwas um sich herum haben, weil sie sich sonst zu Tode langweilen.
Also ist es nicht gemeint, jetzt durch oberflächliche Effekte Leute zu faszinieren, sondern durch das Erlebnis dessen, was innerhalb der Klangmaterie geschieht, auf eine völlig neue Weise zu lernen, Transformationen, Mutationen im Klanglichen mitzuerleben. Und dann ist Musik ein Hilfsmittel, um dieses Bewußtsein zu erlangen.
Dann noch etwas: Warum ist die Dekomposition so wichtig? Man hat - auch ich selbst - in der komponierten Musik immer gedacht, experimentiert, Skizzen gemacht, und das beste Resultat, das fertige Resultat schreibt man hin, bzw. man spielt es. Der Werdeprozeß des Klanges wurde also bewußt herausgelassen.

Der gehörte immer, wie man so sagt, in die Vorbereitungsküche. Ich entsinne mich an einen Moment im Jahre 1951. Ich studierte an der Kölner Musikhochschule und war kurz vor dem Staatsexamen. Als Schulmusiker hatte ich Unterricht in Kontrapunkt bei Hermann Schroeder. Ich hatte eine Sonate für Klavier geschrieben, einfach so aus der Lamäng. Und ich brachte Herrn Schroeder diese Sonate. Als ich sie ihm erläuterte, sagte er: "Hören Sie mal, was soll denn das?« Ich spielte sie vor am Klavier, also: hier ein Ton, und nun ein zweiter, und der erste geht wieder weg und setzt sich darüber, und da kommt wieder einer dazu, und dann gehen die alle drei weg, usw ... Jedenfalls, ich komponierte offensichtlich die Entstehung eines Themas und am Schluß stand das Thema. Und da war ich fertig. Das dauerte, was weiß ich, ungefähr 12 Minuten. Den ganzen Prozeß der Entstehung, also alles, was mir durch den Kopf ging, hatte ich notiert. Da sagte er: »Was fällt Ihnen denn ein? Sie wollen doch das Thema haben!« Ich sagte: »Ja.« - »Ja also, dann schreiben Sie es doch gleich hin.« Ich sagte: »Warum soll ich denn das Thema hinschreiben und anschließend auseinandernehmen, ich kann es doch auch einmal zusammensetzen?« Er meinte, das ganze Stück gehörte eigentlich in mein Kämmerlein, die Geschichte der Entstehung des Themas, und ich sollte mit dem fertigen Thema anfangen. Ich habe das akzeptiert, und ich bin hinausgegangen und habe gedacht: »Das Stück ist Mist, der Meister muß es ja wissen.« Hätte ich ihm sagen können, daß die Entstehung eines Phänomens sehr viel aufschlußreicher sein kann als das Phänomen selbst in dem Moment, wo es als ein geborenes Stückchen hier erscheint? Hätte er es verstanden? Ich hätte natürlich auch dieses Ding auseinandernehmen und in ein anderes überführen können... Von Anfang an war ich also mit Prozessen beschäftigt, zum Beispiel mit dem Prozeß des Dekomponierens, des Auseinanderkomponierens. Aber daß die Entstehung einer Farbe und die Relatität eines farblichen musikalischen Gebildes ein kompositorisches Thema sein könnte, das ist mir auch erst wesentlich später bewußt geworden. Das ständige Werden und Vergehen von Phänomenen! Dann kann auch mal etwas vorkommen, was völlig unerklärt ist, nicht entstanden ist und auch nicht vergeht, sondern aus dem Nichts kommt in dem Moment, wenn es erscheint. So etwas bleibt wirklich unerklärlich und verschwindet auch wieder im Nichts. Viel später vielleicht kommt es einem dann manchmal wie eine Erleuchtung, was es eigentlich war. Es hat sehr starke Wirkungen, in solch einem Prozeß Phänomene zu bringen, die unentwickelt sind, unvorbereitet, unnachbereitet. Das dritte Kriterium ist die musikalische mehrschichtige Räumlichkeit.

Wir sind mittlerweile durch bestimmte Beschreibungen - und einige unter uns durch Erlebnisse vierkanaliger elektronischer Musikwiedergaben - mit neuen Raumkompositionen in Berührung gekommen, und vielleicht haben Sie auch einmal die GRUPPEN für drei Orchester oder das CARRE für vier Orchester und vier Chöre gehört, wo die Orchester um das Publikum herum aufgebaut sind.
Vorige Woche haben wir das wieder in Paris erlebt, wo das Werk CARRE (also mit vier Orchestern und vier Chören, vier Dirigenten - mir dem Rücken zur Wand) viermal aufgeführt wurde. Der Klang bewegt sich dabei mehr oder weniger genau nachvollziehbar von Gruppe zu Gruppe im Raum. Es gibt räumliche Konstellationen, die genau so klar sind wie Intervallkonstellationen in der Harmonik; zum Beispiel links und vorn, links und rechts, langsame Rotation rechts herum, ... accelerando der Rotation bis zu einem Maximum, dann plötzlich einsetzende Linksrotation bis zu einer Fermate, eine alternierende Bewegung zwischen hinten und links und vorne rechts, usw ... Raumkonstellationen sind so komponiert wie die Intervallkonstellationen in Melodien und Akkorden. Ich spreche dann von Raummelodik und Raumharmonik.
Können Sie sich das vorstellen: Raummelodik? Sagen wir, wir hätten jetzt beliebig viele Lautsprecher um uns herum wie in der Kugel in Osaka bei der Weltausstellung 1970. Ein Kugelauditorium. Das Publikum saß in der Mitte auf einer schalldurchlässigen Plattform, auf Kissen. Zwischen den Kissenbänken war Platz, man konnte nach unten durchgucken, es war ziemlich tief. Die ganze Kugel hatte 28 Meter Durchmesser, und rundum waren zehn horizontale Ringe von Lautsprechern von oben bis unten verteilt, vier unter den Hörern und sechs oberhalb. Man konnte nahezu beliebige Konfigurationen des Klanges in Kreisen oder alternierenden Bewegungen zwischen beliebigen Punkten im Raum steuern, sei es improvisierend oder nach bestimmten Mustern.
Für Kreis-, Spiral- und andere periodische Bewegungsformen verwendete ich eine >Rotationsmühle<. Irgendein Mikrophon oder ein Gemisch von Mikrophonen konnte man auf den Eingang einer solchen Mühle legen (Stockhausen zeichnet das Schema der Rotationsmühle an die Tafel); die Mühle hatte zehn elektrische Ausgänge, die man mit beliebigen 10 der 50 Lautsprecherkanäle verbinden konnte, und wenn man mit der Hand den Steuerhebel wie eine Kaffeemühle links oder rechts herum drehte, bewegte sich der Klang entsprechend im Raum. Die höchste Geschwindigkeit betrug ungefähr fünf Perioden pro Sekunde. Mit Drucktastenknöpfen konnte man dann noch das Klanggemisch während der Bewegung ändern. Wenn also zum Beispiel ein Sänger auf diese Weise über Lautsprecher projiziert wurde, war es, als wenn sich ein Mensch unsichtbar im Raum bewegt.

Es ist die Frage, ob das noch der Mensch ist, dessen Stimme man vom Körper trennen kann. Eigentlich doch nicht. Unabhängig von der Körperlichkeit des Musikers begegnet uns ein ganz neues Phänomen, vorläufig das letzte, das historisch entwickelt wurde - hm . . .
Was bedeutet das aber: Klänge im Raum bewegen? Leider kann ich heute Abend keine Vierspurwiedergabe machen, sonst hätten Sie schon einen sehr guten Eindruck davon. Sie müßten dann hier in der Mitte sitzen, und Sie hätten vier Lautsprecher oben und vier unten in den Ecken, um dann wenigstens den geschlossenen Kreis zu bekommen, wenn auch nicht die ganze Kugel des Raumes.
Dann würden Sie wahrnehmen, was schon viele Leute bei Vorführungen von Elektronischer Musik wahrgenommen haben. Die meisten Räume sind nicht dazu geeignet. Sie sind für ganz andere Zwecke gebaut. Die übliche Akustik ist nicht gut für solche Zwecke, weil man die Töne nicht klar orten kann.
Das heißt aber, daß fortan nicht mehr automatisch ein Ton da erklingen muß, wo ein Musiker ist. Und daß nicht mehr automatisch Musik, wie in der westlichen Kultur, räumlich neutralisiert und erstarrt ist, das heißt, daß die Front der Hörer und die Front der Spieler sich unveränderlich einander gegenüber befinden, und daß die Verteilung der Musiker eines Orchesters konventionell feststeht. Die Richtung, aus der die Töne zu Ihrem Ohr kommen, je nachdem wo Sie sitzen, die Geschwindigkeit, mit der sie kommen, werden als selbstverständlich konstant vorausgesetzt, abgesehen von den Reflexionen im Saal.
Daß ein Musiker immer an derselben, konventionell festgelegten Stelle sitzt, hat mit der komponierten traditionellen Musik nur indirekt zu tun. Das heißt, es macht diese Musik nicht klarer oder unklarer, wenn die Sitzordnung von Musikern geändert wird, vorausgesetzt, daß man die natürlichen dynamischen Unterschiede der Instrumente berücksichtigt.

Die Bewegung eines Klanges wie die eines singenden Vogels oder eines Autos, das an mir vorbeifährt, spielt in der traditionellen Musik keine Rolle. Um jedoch in einer neuen Raummusik derartige Bewegungsformen und Raumkonstellationen wahrzunehmen, ist es dringend notwendig, daß ich höre, ob ein Klang von links vorne oder rechts hinten kommt. Im modernen Verkehr in einer Stadt ist es zum Beispiel für einen Fußgänger dringend notwendig, daß er schnell erkennt, wenn ein Auto von hinten kommt, um den letzten Sprung zu machen, bevor es ihn erwischt hat. Auch ist es wichtig zu bemerken, in welchem Abstand das Auto hinter ihm ist. Das ist also nur noch im Verkehr lebensnotwendig, während es zum Beispiel bei der Jagd völlig gleichgültig geworden ist, denn es gibt ja kaum noch etwas zu jagen. Bei der Jagd ist es wichtig zu wissen, woher ein Geräusch kommt. Es amüsiert mich, heutzutage noch so etwas wie eine Treibjagd zu erleben. Ich wohne draußen in Kürten, im Bergischen Land.
Vor einiger Zeit beobachtete ich so annähernd 15 Jäger und Treiber. Ich kenne den Wald ziemlich gut - es gibt nur noch ein paar Hasen und Kaninchen. Und was denken Sie, was die Jäger am Abend für ein Latein dreschen: „Wie er da so Männchen machte und ich auf ihn anlegte. . .“ Also, was ich damit sagen will: die Notwendigkeit beim Jagen, Töne von einer bestimmten Richtung kommen zu hören, und die Geschwindigkeit, mit der sich ein Ton nähert und vorbeibewegt oder entfernt: das ist ja für den heutigen Europäer völlig gleichgültig geworden.

Die Kirchen- und Konzertsaalmusik blieb räumlich fixiert. Daß sich das Bewußtsein von der Räumlichkeit des Klanges, von seiner Bewegung wieder belebt, hat eine eminent wichtige Wirkung. Wir brauchen heute dringend einen unverbrauchten Parameter, denn die Tonhöhen sind vorläufig noch ziemlich lahmgelegt. Harmonik und Melodik funktionieren nur noch relativ, sind neutral durch das Zerbrechen bzw. das völlige Auslaufen des tonalen Systems. Im Westen kann man daher zunächst nur bedingt Sinnvolles in der Harmonik machen, was Leute auch verstehen oder mitvollziehen oder nachvollziehen könnten. Das hat natürlich seine Vorteile.
Die Bewegung der Klänge ist also nicht mehr notwendig an den Körper gebunden. Das ist etwas sehr Wichtiges. Daß ich dank der modernen Hilfsmittel Mikrophon, Magnetophon, Lautsprecher nicht mehr die 172 Pfund transportieren muß, wenn meine Stimme irgendwo in der Ferne gehört werden soll. Daß ein Oboist, der vorne links auf einem Podium sitzt, nun immer von da gehört werden soll, wo er sitzt, ist ja nicht unbedingt notwendig. Das wissen wir alle vom Radio und vom Fernsehen. Und sicher werden sich die modernen Mittel immer mehr so entwickeln, daß wir ganz plastische, dreidimensionale Akustik wie auch Optik erleben, ich meine also Klänge überall an beliebigen Punkten im Raum.
Lautsprecher sind nur ein Übergangsmittel, das wissen Sie wohl auch. Man müßte zum Beispiel, um nur das zu reproduzieren, was ein 80-Mann-Orchester spielt, das vor mir sitzt, 80 Lautsprecher haben, damit jeder Klang seinen eigenen Raum hat, um sich im Raum entfalten zu können. Jeder Ton braucht nämlich sein eigenes Luftvolumen, um sich am besten entfalten zu können und gehört zu werden. Es ist also ein Übergangszustand, daß man solch primitive Lautsprecherwiedergaben verwendet. Man wird ganz neue Phänomene verwenden, wie zum Beispiel ionisierte Luft in bestimmten Auditorien, wo man direkt Luftpartikelchen in Schwingung bringt, ohne daß noch mechanische Membranen die Luft anstoßen müssen; wo also der Klang nicht mehr mit einer bestimmten Geschwindigkeit durch Luftwellen transportiert werden müßte, sondern ein Luftkissen direkt über Ihnen, über Ihrer Nase schwingen könnte. Da stehen uns mehrere wesentliche Revolutionen in den nächsten 20, 30 Jahren bevor. Die Industrie versucht das natürlich zu bremsen, weil sie noch genug an den Lautsprechern verdient. Aber wenn das dann eines Tages aus ist, dann kommt etwas Neues.

Genauso ist es mit der vierkanaligen Stereophonie. Jetzt haben Sie zweikanalige Stereoanlagen und sich das Geld mühsam vom Haushaltsgeld abgespart. Und wenn Sie das alle haben, dann fängt das vierkanalige Hören an.
Zunächst können sich wenige Reiche die Apparate kaufen, anschließend kauft sie die sogenannte Mittelklasse, und dann schließlich haben es bald auch die Leute draußen in dem Dorf, wo ich wohne, weil sie einfach >Quadrophonie< haben müssen - da ist nun nichts zu wollen. Dann wird die gute Stube ausgeräumt, die jetzt schon die Fernsehstube ist, es kommen vier Lautsprecher hinein, und also hört man vierkanalig. Das wird hier in Deutschland genau so geschehen, wie in Amerika oder Japan. Man muß die Freizeit ja irgendwie verbringen ...

Ich meine, das ist nicht nur so banal, wie es jetzt klingt, sondern das formt neue Menschen. Mit denen kann man dann zum Teil auch über Sinnvolleres reden als vorher, das muß man schon sagen. Über bestimmte Bewegungen von Klängen zum Beispiel, und was durch sie geschieht. Die Tatsache, daß ein Klang oben erscheint und sich mit einer Geschwindigkeit, die schneller ist, als je ein Mensch sich bewegen könnte, von oben links nach halbunten rechts mit einem bestimmten Winkel und einem bestimmten Grad innerhalb meines Wahrnehmungsfeldes bewegt, kann genauso eine wesentliche Information sein wie eine Quarte in einer Tonhöhenmelodie. Wenn ich den Raum topologisch orte und entsprechend strukturell komponiere, um Klänge im Raum sich in ganz bestimmten Ordnungen bewegen zu lassen, so kann das zu einer unerhört lebendigen Musik führen. Ich könnte im Verlauf einer Komposition genauso räumliche Konstellationen etablieren wie Akkorde, und darauf andere Konstellationen beziehen; ebenso Raummelodien komponieren, die also durch das Hoch- und Tiefgehen von Klängen, durch das An-mir-vorbei-kommen in bestimmten Höhen oder Tiefen oder geraden oder gekrümmten Linien, alle möglichen geometrischen Konfigurationen beschreiben, wenn sie vom Komponisten strukturell benutzt werden. Und so haben wir einen neuen Darstellungsbereich für die Komposition gewonnen.

1953/54 haben wir versucht, Lautsprecher an Seile zu hängen und im Saal zu bewegen. Wir haben alle möglichen Experimente gemacht. Man kann ja nun nicht so einfach einen Trompeter auf einem Stuhl festbinden und ihn im Saal herumschleudern und dabei blasen lassen. Also sucht man andere Möglichkeiten, den Klang alleine in einem Raum zu bewegen, und diese Entwicklung hat gerade erst begonnen.
Was mir aber noch wesentlicher erscheint, ist dies: Daß eine räumliche Mehrschichtigkeit von Schallschichten hintereinander komponiert wird. Das heißt, daß man - vergleichbar zur optischen Welt - Schallvorhänge komponiert, die sich öffnen und wieder schließen. Und wenn sich ein Schallvorhang öffnet, hört man etwas, was dahinter ist, was auch schon da war, dessen man sich aber nicht bewußt war. Und solch eine zweite Schicht könnte sich wiederum öffnen und eine dritte Schicht freigeben, usw ...

Da stellen sich ganz interessante Fragen. Wieviel Schichten kann man überhaupt hintereinander komponieren? Wieweit hat es bis heute jemand fertiggebracht, Schichten hintereinander zu komponieren? Ich habe es bis zu 6 Schichten geschafft. Aber das ist wirklich schwer. Es verlangt ganz bestimmte Klangfarben, um überhaupt eine zweite Schicht zu hinterlegen, ohne daß sie gehört wird, wenn eine vordere Schicht davor ist. Es verlangt ganz spezifische Kategorien von Klang und von Klangkomposition, um solche Tiefschichtigkeit, um gestaffelte räumliche Tiefe zu komponieren und dann entsprechend wahrnehmen zu können. Da habe ich während der Arbeit an den KONTAKTEN bei mehreren Abschnitten zum Teil sehr lange Zeit gebraucht, um experimentell herauszufinden, ob ich noch eine Schicht hinter bereits vorhandene setzen konnte oder nicht. Wie mußte die sein? Sehr scharf konfiguriert, also kleine Figürchen machen und dahinter wieder so eine Rauschschicht, die vielleicht mit Impulsscharen durchwirkt ist, um genügend Verdeckungseffekt zu haben für eine Schicht dahinter mit harmonischen Spektren, usw ... Und dieses Aufdecken und Zudecken klanglicher Schichten, die hintereinander sind und Musik in Auditorien zu hören und nicht im Freien. Ich kann also nicht ohne weiteres Schall durch überdimensionalisierte Lautsprecher 300 Meter weiter weg hören lassen. Das muß man eben durch diese Tiefenwirkung in allen Richtungen erzeugen.
Was gehört dazu? Dazu gehören zwei Phänomene. Einmal eine sehr viel differenziertere Komposition der Dynamik als je zuvor. Laut-leise ist zwar maßgebend für einen Ton, der nah oder fern wirkt, aber nicht nur. Denn manche Töne, die sehr nah gehört werden, können ausgesprochen leise sein.

Aber ich kann trotzdem sagen: der ist ganz nah -, während andere Töne, die ziemlich laut sind, eindeutig den Charakter haben, daß sie so und so weit, sagen wir mal 50 Meter oder 200 Meter oder einen Kilometer weit entfernt klingen.
Mit dem Problem, warum ein Ton in einem bestimmten Abstand erscheint, muß sich ein Komponist befassen, der mit Raumkategorien komponieren will.
Was macht es möglich, einen bestimmten Schall links erscheinen zu lassen, der den Abstand von ca. 150 Meter von mir hat und sich dann mit hoher Geschwindigkeit innerhalb einer Sekunde bis zu extrem nahe auf mich zu bewegt? Naheweit-Eindruck ist also mehr als nur laut-leise. Das wissen Sie selber. Er ist auch das Ergebnis von Verzerrungen des Klanges, wie oft der Ton reflektiert wird, bis er mein Ohr erreicht. Und aus diesem subtilen Zusammenwirken von Dynamik und Klangfarbe kann man räumliche Entfernung komponieren.

Man stößt dabei auf ein wesentliches Problem unserer gesamten Wahrnehmungskonzeption. Wir sagen zum Beispiel, wenn ein Ton in einem Saal sehr weit links erscheint: ja, das ist eine Illusion. Wenn ich zum Beispiel jetzt das Licht ausmache und eine Vierspurvorführung eines bestimmten Abschnittes von KONTAKTE mache und dann sage: "Merken Sie sich diesen Ton, wie der sich räumlich verhält; er geht ganz weit weg und kommt dann wieder zurück nach vorn«, dann sagen Sie: "Ja, das ist doch eine Illusion, der Ton ist ja nicht weit weggegangen.“ Daran merken Sie etwas sehr Interessantes. Die Tatsache, daß Sie sich nicht vorstellen können, daß diese Wand sich bewegt hat - mit anderen Worten: daß die Wände des Raumes, in dem Sie sind, sich offenbar für ihre Augen nicht bewegen, verleitet Sie zu der Reaktion, zu sagen: "Ja, was ich akustisch erlebe ist eine Illusion, und nur das, was ich optisch prüfen kann, ist die Wahrheit.“ Und das hat unerhörte Konsequenzen; denn Sie wissen, daß heutzutage nur das, was geschrieben ist, als glaubwürdige Wahrheit gilt, das, was 'unterschrieben' ist. Das alles hat mit unserer visuellen Erziehung, mit der Schreiberziehung zu tun. Wir sind keine akustischen Menschen mehr. Wir sind im Grunde taub. Unser Wahrheitsbegriff basiert nur auf der Wahrnehmung der Augen.

Ich kann zum Beispiel als Musiker sagen: Für mich ist das die Realität des Klanges, was ich erlebe, wenn ich die Augen zumache; die Feststellung, daß die Mauern sich nicht bewegen können, ist eine Illusion; der Klang hat sich 150 Meter weit entfernt und ist dann zurückgekommen. Da sehen Sie, Sie könnten das Ganze auf den Kopf stellen: Es sei eine Illusion, zu sagen, die Mauer habe sich nicht bewegt. Warum? Weil wir das Visuelle als das Absolute für unsere Wahrnehmungskriterien bezeichnen und nicht das Akustische. Wir leben in einer rein visuellen Gesellschaft und Tradition.
Da gewinnt die Musik nun eine ungeheuere Bedeutung. Sie kann zum Beispiel durch die Erweiterung des räumlichen Parameters dazu beitragen, daß eine Wahrnehmungsphänomenologie, die ebenso auf dem Akustischen wie auf dem Visuellen basiert, allmählich wieder entwickelt wird. Selbstverständlich kann ich in diesem Raum einen Schall drei Kilometer weit weg hören, wenn ich ihn über Lautsprecher produziere! Das Entscheidende ist, was ich wahrnehme. Und erst wenn die Wahrnehmungskategorien revidiert sind, dann kann man damit rechnen, daß das, was ich komponiere, überhaupt wahrgenommen oder akzeptiert wird als Wirklichkeit, als musikalische Wirklichkeit.
Das sind ein paar Andeutungen über die Konsequenzen der musikalischen Verwendung räumlicher Mehrschichtigkeit.

Ich zeige Ihnen jetzt wieder ein Beispiel. Der letzte Klang des vorigen Beispiels, dieser dicke, massige Klang, ist nicht umsonst so dick und massig: er verdeckt am stärksten. Und den hören Sie nun mehrfach sehr laut, auch sehr breit im Spektrum, sehr rauschig. Er öffnet sich, und Sie hören dahinter eine zweite Schicht. Auf dieser zweiten Schicht erleben Sie kleine Figürchen, so wie Krähenschreie; eine dritte Klangschicht wischt diese wieder aus, kommt ganz in den Vordergrund, ganz nahe, Dieses Nah-Weit-Erlebnis ist wichtig. Lösen Sie sich vom Visuellen. Also, Sie wissen jetzt, wie Sie das machen können.


Klangbeispiel 5

Haben Sie bemerkt, wie dieser Pulk am Schluß abzieht in einen ziemlich großen Raum, aber in einen geschlossenen Raum? Das hört man. Es klingt so wie in einer großen Kirche mit viel Echo.

So, das muß nun jeder für sich weiter ausspinnen und versuchen, auch mal original solche Musik zu hören, wenn sie in relativ guten Auditorien wiedergegeben wird, mit entsprechenden Lautsprechern, die nicht nur in einer Ebene, sondern möglichst in einer Halbkugel, bzw. in einem achteckigen Lautsprecherkubus verteilt sind, um überhaupt einmal zu verifizieren, worüber ich eigentlich rede. Und daß diese Relativierung des Ortes der Töne und der Geschwindigkeit im Raum ein neues Gestaltungskriterium der Musik wird, das kann man nur durch das Erlebnis nachvollziehen.
Jedenfalls ist es selbstverständlich, daß die Bindung des Klanges an die Körperlichkeit des Musikers wie auch an das Instrumentarium, das wir bis heute verwendeten, historisch abgeschlossen ist; daß wir nicht mehr unbedingt an den Körper und seine muskulären Fähigkeiten gebunden sind, um Instrumente zu spielen und die Maxima und Minima seiner Geschwindigkeit der Fingermuskeln oder des Atmens als absolute Grenzen zu betrachten; daß wir uns von dieser Physikalität des Körpers zu emanzipieren beginnen, ist ja mittlerweile doch einigen Musikern klar; und sie können sich vorstellen, daß das nicht beliebig so weitergeht, unsere mechanischen Instrumente so zu spielen, wie wir sie gelernt haben und wie sie heute noch gebaut werden. Selbstverständlich kann man, um eine unmittelbare Übertragung des Inneren ins Äußere zu erreichen - innere Schwingungen in Schallschwingungen zu verwandeln -, mechanische Resonatoren verwenden (also Holzkästen wie Geigen, mit Katzendärmen oder Stahlsaiten bespannt; oder aus bestimmtem Metall gemachte Blasrohre wie Trompeten, Hörner usw.), um Töne zu erzeugen. Aber das ist ja historisch begrenzt und nicht bis in alle Zukunft an den musikmachenden Menschen gebunden. Man wird immer mehr elektronische Apparate der Klanggestaltung und der genaueren Differenzierung der Töne, was Dynamik betrifft, und der genaueren Messung, was die Klangfarben betrifft, benutzen.
Die räumliche Bewegung der Töne wird man dadurch erreichen, daß man durch Kontaktmikrophone oder Mikrophone spielt und durch die eigene Bewegung den Klang zu steuern sucht. Aber irgendwo sind unsere Füße und Hände begrenzt: man kann die Dynamik noch genauer mit einem Pedal regeln, vielleicht in 50 oder 60 Graden; man kann mit einem zweiten Fußpedal die Klangfarben mit einem Filter regeln; man kann mit einer Hand Knöpfe drehen, um Dynamik und Klangfarben noch etwas genauer zu differenzieren oder die Rhythmik zu beeinflussen (um zum Beispiel schnellere Rhythmen zu produzieren, als man mit der Hand machen kann), und mit der anderen Hand kann man auf einer Tastatur die Tonhöhen spielen. Dann ist es aber zu Ende.
Man braucht eventuell einen Assistenten wie ein moderner Flugzeugführer, der ein ziemlich kompliziertes Flugzeug fliegt und nicht nur so ein einmotoriges.
Das heißt, da müssen zwei, drei Leute unter Umständen zusammenarbeiten, um einen einzigen Ton zu erzeugen. Und so wird es kommen: einer spielt zum Beispiel die Tonhöhen, Klangfarben, Rhythmen, ein anderer reguliert die Dynamik und Raumverteilung, und man einigt sich gemäß notierten Dokumenten oder freien Vereinbarungen über das Zusammenspiel.

Zur räumlichen Steuerung des Klanges könnte man einen kleinen Radarschirm verwenden, auf den man mit einem Lichtstift die Flugbahn eines Klanges zeichnet, oder man könnte durch Bewegungen des Körpers in einem Theremin-Feld den Klang im Raum bewegen. Die Bewegung des Körpers würde einfach Veränderungen in einem elektromagnetischen Feld bewirken, und diese könnte man elektronisch zur Steuerung von Phasenverhältnissen eines Klanges benutzen. Ich weiß nicht, ob Sie darüber gehört haben. Man hat sich ja in den zwanziger Jahren in Amerika einmal vorgestellt, daß das Radio sich so entwickeln würde, daß jeder, der vor dem Radioapparat sitzt, mit Handbewegungen die Klanglautstärke im Raum beeinflussen könnte. Und was man auf die Dynamik bezieht, das könnte man auch für die Rhythmik oder Raumverteilung anwenden, so daß man den Klang beliebig moduliert. Das könnte jetzt wieder hochaktuell werden.
Ich habe zum Beispiel vor zwei Jahren in Australien eine Gruppe von jungen Leuten getroffen, die sich damit beschäftigt, Theremin-Geräte so zu verwenden, daß man Ballette damit machen kann, in denen Ballettbewegungen in einem elektromagnetischen Feld abgetastet und Verstärker damit betrieben werden, so daß jede Bewegung einen bestimmten Ton erzeugt bzw. einen bestimmten Stromkreis unterbricht und dadurch wieder etwas anderes - zum Beispiel Projektoren - beeinflußt wird. Man könnte um jeden Musiker herum ein solches Feld schaffen: Da, wo sich der Musiker hinbewegt, wäre auch der Klang.

Aber ich suche nach einer idealeren Möglichkeit, so daß auch schnelle Bewegungen erzeugt werden; also Rotationen um den Zuhörer herum, die schneller als 16 Umdrehungen pro Sekunde sind. Ich suche nach einer Lösung, einen Apparat zu entwickeln, durch den der Musiker nicht nur Dynamik, Rhythmik, Tonhöhen und Klangfarben beeinflußt, sondern auch die Projektion an einen beliebigen Ort im Raum mit einer beliebigen Geschwindigkeit, so daß sich Musiker, die auf der Bühne sitzen, gegenseitig im Raum nachlaufen, treffen, parallel bewegen, umeinander drehen können usw ... So, wie das die Jungen heute machen, die ferngesteuerte Flugzeuge haben. Nur sind es eben keine Flugzeuge, sondern Töne, und das will ich haben. Da sind in den nächsten Jahrzehnten der Phantasie keine Grenzen gesetzt, um der Musik neue Hilfsmittel zu schaffen, damit sie weiterkommt, sich emanzipiert und frei wird von den physikalischen Grenzen, die wir bisher als selbstverständlich hingenommen haben.


Das vierte und letzte Kriterium ist das der Gleichberechtigung von Ton und Geräusch. Darüber haben Sie auch viel gehört. Also heute macht man >Geräuschmusik<, wie man so schön sagt. "Das ist aber keine Musik, denn Geräusche sind keine Musik. . .“ Solch ein Urteil ist wie das Tabu der Russisch-orthodoxen Kirche - zumindest bis vor kurzem -, daß keine Orgeln verwendet werden dürfen, sondern nur menschliche Stimmen, und das hat ganz bestimmte Gründe. Der Grund dafür, daß in unserer westlichen Musik keine Geräusche verwendet werden durften, liegt in der Entwicklung der Polyphonie. Denn Polyphonie kann man nur harmonisch kontrollieren bei exakt meßbaren Intervallen und Akkorden. Um Intervalle genau hören zu können, braucht man Töne mit periodischen Schwingungen; man kann also keine Geräusche gebrauchen.

Geräusche sind nur approximativ in ihren Tonhöhen definierbar. Deshalb konnte außereuropäische Musik - zum Beispiel die japanische oder afrikanische oder südamerikanische - selbstverständlich die Geräusche nach wie vor in reichem Maße benutzen; denn sie war ja eine einstimmige Musik bzw. eine heterophone.
In der europäischen Kunstmusik mußten das Intervall (als vertikales Intervall) und Intervallkonstellationen bis zu drei Intervallen in Akkorden, die man gleichzeitig hört und beurteilt als eine Einheit - nämlich als einen Akkord in Relation zu einem anderen Akkord -, eindeutig erkennbar sein, und deshalb waren Geräusche tabu. Das ist nicht nur deshalb so, weil die Kirche die Musik bis zur Säkularisierung beheimatet hat. Auch nach der Säkularisierung oder wie man sagt - nach der Verbürgerlichung der Musik ist das beibehalten worden.

Das hat ganz bestimmte Gründe. Sie lagen im System selber. Erst mit dem Zerbrechen des harmonischen Systems und seiner Intervallgesetze, des >tonalen Systems<, war es möglich, Geräusche in größerem Maße einzubeziehen. Und das hat dann auch stattgefunden.

Anfang des Jahrhunderts nahm die Verwendung von Schlaginstrumenten schnell zu - Strawinsky, Webern, Milhaud, Bartók, Schönberg. Varèse schreibt 1931 Ionisation für 32 Schlagzeuge und 2 Sirenen, wobei die allermeisten keine definierten Tonhöhen mehr erzeugen, wie Becken, Gueros, Trommeln mit Saiten, Peitschen, Schellen, Maracas, Kastagnetten usw ... Es gibt, glaube ich, nur ein Tonhöheninstrument dabei, das Klavier. Auch die Sirenen haben erkennbare Tonhöhen, aber diese sind nicht notiert. Alles andere sind Geräuschinstrumente. Oder denken wir an Construction in metal, ein Stück von John Cage aus dem Jahre 1937, das Sie eigentlich auswendig kennen müßten, um zu verstehen, was in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts passiert.
Für Construction in metal sammelte sich Cage eine ganze Kollektion von Metallinstrumenten zusammen, nur um eine bestimmte Klangwelt der Vermittlung zwischen Ton und Geräusch möglich zu machen. Das sind also wirklich Werke, die man kennen muß, um zu verstehen, was eigentlich geschehen ist.

Man sollte auch die Bruitisten - selbst wenn man denkt, daß es keine großen Komponisten waren - kennen. Zum Beispiel Russolo, der seit 1913 mit seinen elektrischen Geräuschinstrumenten und mit seinem >futuristischen Orchester< viel Rabatz gemacht hat. Heutzutage ist für einen Komponisten jeder Klang potentiell musikalisches Material. Auch ein Klogeräusch. Es ist nur die Frage, in welchen Kontext er gesetzt wird, um als Klogeräusch einfach neutralisiert zu werden, und dann hören sie ihn gar nicht mehr als Klogeräusch. Und wenn die Assoziation noch vorhanden ist, dann muß er halt vermittelt werden, um sich in eine Musik, die einen weiteren realistischen Darstellungsrahmen hat als nur Oboe, Klavier, und, wie bei Messiaen vielleicht, Le merle noir zu integrieren.
In mehreren meiner Kompositionen aus den letzten Jahren wie TELEMUSIK, HYMNEN, KURZWELLEN kommt praktisch alles an assoziativen Klängen vor. Hier und da hört man überall neu hinzukommende Klangereignisse. Das Wesentliche ist heute: jeder Klang kann musikalisches Material sein.

Nicht die Klänge sind gute oder schlechte Musik, sondern es kommt darauf an, was damit gemacht wird. Ob sie vermittelt, ob sie wirklich komponiert sind. Oder ob sie nur wie in einer Ausstellung exponiert sind - wie in einem akustischen Bauchladen, wenn der Hausierer sagt: ich habe diesen Klang, ich habe auch jenen Klang, ich kann solche Töne machen, ich kann aber auch noch andere machen. (Die meisten Komponisten machen es so. Meistens kümmern sie sich dann wenig um die Nachfrage und wundern sich...) Wesentlich ist, daß Vermittlung stattfindet, daß ein Klang plötzlich eine Variante eines anderen ist, daß also zwischen Ton und Geräusch ein Kontinuum komponiert wird. Und das schafft Bewußtseinserweiterung. Das zeigt auf einmal, daß ein Konsonant ein Grad eines Vokals ist: wenn ich einen Vokal kontinuierlich mehr und mehr überhauche oder verzerre, wird er über die Halbkonsonanten ein Konsonant. Jeder Klang kann mit jedem anderen zunächst einmal in ein Kontinuum gebracht werden, und in der Mitte zwischen den zwei gegebenen Klängen entsteht eine zweideutige Situation. Man weiß nicht, ist es das eine oder das andere. Ist es Fisch, oder ist es Fleisch. Bei drei vorhandenen Klängen entsteht eine dreidimensionale Vermittlung, usw. ...
Diese Mehrdeutigkeit der Klangfarben ist wesentlich für die Einbeziehung der Geräusche. Dadurch werden auch die ganzen Tabus abgebaut werden. Es gibt Traktate über Musik, in denen bestimmte Schlagzeugklänge, Geräusche mit dem Teufel identifiziert wurden, und andere harmonische Klänge mit Gott.

Also gab es ausgesprochen heilige und unheilige Klänge. Es gab sogar Bücher, in denen bestimmte Instrumente nur für bestimmte Zwecke empfohlen werden.
Lesen Sie einmal im Staat von Plato, wozu ein Aulos gut ist und wozu eine Harfe gut ist. Oder lesen Sie Bücher über die Mantra-Technik, über das also, was bestimmte Klänge Menschen antun und was sie in den Menschen bewirken.
Gerade heute Morgen habe ich einen Brief bekommen von einem Biologen aus Siegburg (Sie sollten ihn hierherholen, um Vorträge zu halten), der hat mir phänomenale Dinge berichtet. Er arbeitet zum Beispiel mit Geisteskranken.
Er beschreibt, wie man Menschen durch bestimmte Klänge heilen kann, und was er in jüngster Zeit für Fortschritte gemacht hat durch die Erweiterung der Klangmöglichkeiten. Er sagt: »Ich muß in Ihr Studio. Ich möchte die elektronischen Möglichkeiten benutzen, denn ich will kontinuierliche Accelerandi und Ritardandi mit bestimmten Klängen machen, die die Leute kennen, und sehen, was passiert. Mir ist vorige Woche etwas Phänomenales passiert. Ich habe ein Metronom auf Tonband aufgenommen und dieses kontinuierlich sehr stark verlangsamt; über Kopfhörer habe ich den Klang in ein Aquarium übertragen und mit dem Rhythmus einen Fisch synchronisieren können. Durch die Verlangsamung des Metronoms ist der Fisch, und das war wirklich nicht beabsichtigt, gestorben. Er hat sich immer langsamer bewegt - völlig synchron mit dem Metronom -, und plötzlich war er tot.« Und der Briefschreiber sagt weiter:

»Umgekehrt habe ich das Metronom so beschleunigt, daß ein Fisch wie verrückt herumgeschwommen ist.« Und er fügt hinzu: »Ich will weiter, ich will mehr wissen. . .«

Eine neue Wissenschaft, ähnlich der Mantra-Lehre, die in Indien eine ganz selbstverständliche, uralte orale Tradition ist. Was bewirken bestimmte Töne im Menschen? Die meisten glauben, daß es keine Rolle spiele, was sie hören. Man könne sich also Popmusik ein paar Jahre lang ohne Schaden mit 110 Phon um die Ohren jagen. Man bemerkt zwar im Moment, daß bestimmte Zentren irrsinnig zu vibrieren anfangen. Aber niemand weiß, was eigentlich mit ihm geschieht. Daß man dann irgendwann einen kleinen Hau kriegt oder nicht mehr richtig hören kann, das wissen die Leute gar nicht. Warum? Weil an unseren Hochschulen nur noch Musik abstrakt und kalt gelehrt wird, ohne zu wissen, was diese dem Menschen antut. Die einen sagen, bei einem bestimmten Stück werden sie traurig, oder bei einer Stelle werden sie traurig, und bei einer anderen werden sie fröhlich. Aber was bewirken diese 'Stücke' und 'Stellen' denn wirklich in der Psyche?
Wenn ein Mensch etwas Akustisches erlebt, wird er verändert, weil er durch die Schwingungen moduliert wird, seine ganzen Atome werden moduliert; er kann nur zum Teil den Zustand wiederfinden, in dem sie vorher geschwungen haben. Darüber weiß kein Musiker etwas Genaues. Und es wäre doch die elementarste notwendige Ausbildung, daß man jetzt mehr und mehr, und zwar in Gruppenteams, genau erforscht: was geschieht bei bestimmten Geräuschen, bei bestimmten Tönen, Tonkonstellationen, damit wir eine neue Lehre des musikalischen Erlebnisses bekommen als Ergänzung zur abstrakten Lehre.
Man denkt bisher: da ist die Musik, hier bin ich. Ich bleibe derselbe, habe aber meine Meinung über das, was ich gehört habe. Und wenn jemand nach dem Anhören sagt: »Das war ein Scheißstück«, dann ist er fertig damit. Daß er aber selber mittlerweile schon zu so einer ordinären Äußerung gebracht worden ist durch das Stück, das bemerkt er gar nicht. Und was diese Musik in uns psychisch hervorgerufen und verändert hat, das sind Phänomene, die zu studieren wären, vor allem dann, wenn man eine Gleichberechtigung von Ton und Geräusch anstrebt. Sie hören gleich den letzten Abschnitt von KONTAKTE, und wieweit dort Töne und Geräusche vermittelt sind, mögen Sie selber erwägen. Im vorigen Abschnitt, den wir gehört haben, gab es vorwiegend Geräusche; nur als kleine Figürchen hörte man Töne im Hintergrund. Noch früher hörten Sie klare Tonhöhen, die aus einem Ton kamen, der sich auseinanderfaltete; in dem Moment, wo er auseinandergebrochen war, brauchte ich keine Tonhöhen mehr, und dann habe ich immer mehr Geräusche verwendet.

Im letzten Abschnitt, der nun folgt, habe ich eine Balance zwischen Tönen und Geräuschen angestrebt. Ob ich sie erreicht habe, ist von Ihnen zu beurteilen. Und da gibt es noch ein wesentliches Kriterium zu beachten. Wieviele Geräusche kann man - im Vergleich zu Tönen - in einem bestimmten Zusammenhang verwenden, um eine Gleichberechtigung herzustellen? Zeitlich gemessen: genau so viele Geräusche wie Töne? Nein. Es müssen sehr viel weniger Geräusche sein als Töne. Warum? Weil Geräusche sehr starke Verdeckungseffekte haben und innerhalb eines bestimmten Kontextes einfach unpräziseres Material sind.

Also dieses unpräzisere Material hat innerhalb eines tonhöhenbestimmten Zusammenhangs ausgesprochene Ablenkungsfunktion. Wenn ich aber ein Stück mache, in dem nur Geräusche vorkommen, relative Geräusche, so muß ich mich sofort wieder fragen: wieviel von welcher Kategorie? Also, es ist keinesfalls so, daß man einfach quantitativ gleich viel nimmt, so und so viele Geräusche und so und so viel bestimmte Töne, um zu sagen: so, jetzt habe ich eine Gleichberechtigung. Das geht nicht! Das ist eine ganz subtile Angelegenheit. Man muß sich einen Abschnitt anhören und sagen: nein, es fehlen hier noch ein paar Tupfen, damit man den Eindruck hat, es sind Geräusche und Töne und Zwischenstufen gleichberechtigt verteilt, sie sind gleich wichtig. Ich bringe einmal das eine in den Vordergrund, dann das andere. Das werden, Sie jetzt am Schluß des Stückes hören. Diese Balance ist angestrebt.
Die Möglichkeit, durch elektronische Mittel im Kontinuum zwischen Ton und Geräusch zu komponieren und auf Grund dieses Kontinuums dann Gleichberechtigung bei aller unterschiedlichen Gewichtsverteilung in Hinsicht auf tonhöhen-bestimmte Phänomene und mehr oder weniger tonhöhen-unbestimmte Phänomene zu komponieren: Das zeichnet sich erst allmählich durch immer größere Verbesserung der neuen Mittel ab, und erst in solcher kompositorischen Verwendung rechtfertigen sie sich. Hören Sie nun bitte den letzten Abschnitt der KONTAKTE (von 27’45,5.’’ - siehe S. 389 Abb. 3, Partiturseite 31 - bis Schluß).


Klangbeispiel 6


Liebe Zuhörer, ich habe versucht, Ihnen vier Kriterien der Elektronischen Musik zu erläutern. Natürlich sind das nur einige der wesentlichen Kriterien.
Ich hoffe sehr, daß es deutlich geworden ist, was ich eigentlich wollte: einmal wollte ich Sie zum konzentrierten Zuhören bewegen. Die KONTAKTE tun das ihre, wenn man sie nur konzentriert miterlebt. Zum anderen wollte ich aber auch klar machen, daß Erneuerungen wie die der Elektronischen Musik in einem stetigen Prozeß der menschlichen Bewußtwerdung zu verstehen sind. Es wird bis in alle Zukunft ständig Neues geben, und was ich heute über die Kriterien Elektronischer Musik sage, ist morgen schon eine Selbstverständlichkeit.
Aber es ist gar nicht selbstverständlich, daß ein jeder, der weiß, was er tun könnte, um sich selbst durch solche Musik auf neue und tiefere Weise zu erfahren und sein Bewußtsein von sich selbst und von sich in der Welt zu erweitern, das auch praktisch tut. Dazu gehört sehr viel Disziplin, auch eine echte Begeisterungsfähigkeit, Lebendigkeit, Geduld, Ausdauer und der Glaube, daß jeder dazu geboren ist, ständig im Bewußtsein zu steigen, über sich selbst hinauszuwachsen.
Musik, in der sich die Dimensionen erweitern und die auf neue Weise tönt, kann dazu dienen, wie ich oft sage, ein schnelles Flugschiff zum Göttlichen zu sein.


Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen guten Abend.


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